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Titel
Religionen in Nachbarschaft. Pluralismus als Markenzeichen der europäischen Religionsgeschichte


Herausgeber
Bultmann, Christoph; Jörg, Rüpke; Sabine, Schmolinsky
Reihe
Vorlesungen des interdisziplinären Forums Religion der Universität Erfurt 8
Erschienen
Münster 2012: Aschendorff Verlag
Anzahl Seiten
273 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
David Neuhold

Der Untertitel des Sammelbandes ist eindeutig ambivalent. Der mit und in ihm getätigten Feststellung treten einige Autorinnen des vorliegenden Sammelwerks implizit (Mandry, Schmolinsky), andere explizit entgegen, im Speziellen dann, wenn Pluralismus eine positiv geprägte Einstellung zur Vielheit, zur Pluralität, meint.

In seinen zwei Teilen spiegelt der Titel wohl mehr die Main-Stream-Bedürfnisse heutiger (Wissenschafts-) Politik, die Anschluss an den öffentlichen Diskurs sucht, wieder, als dass er eine konturierte historische These für Fragen der Religion in Europa wäre.

Mit dem interdisziplinären Forum stellt die Universität Erfurt ein interessantes Instrument «religionsbezogener Forschung» (272) bereit. Aus diesem Forum sind schon sieben Bände hervorgegangen. Von den 12 Beiträgerinnen und Beiträgern sind sieben institutionell an der Universität Erfurt verankert, sprich sechs Professoren und eine Professorin – unter ihnen alle verantwortlich zeichnenden Herausgeber –, andere stehen der Universität Erfurt nahe. Der im Sammelband beschriebenen Pluralität wollten wir mit einem «Versuch » begegnen: Vier kirchenhistorisch interessierte Personen haben sich dem Studium des Sammelwerkes verschrieben, es gemeinsam gelesen und besprochen. Die vorliegende Rezension ist Frucht davon. Das Pluralitätsthema spiegelte sich somit in der Vierzahl der Rezipienten, auch wenn die Pfade der Analyse gemeinsam und relativ einmütig beschritten wurden. Grosser Dissens kam nicht auf.

Die Vielfalt der Beiträge ist auffallend. Bereits in der Einleitung werden sie eingeführt, manchmal etwas zu stark in der Perspektive und unter den Auspizien der Titelei – ein skizzierter Charakter, den die Beiträge dann nicht einzulösen vermögen.

Im Folgenden seien die einzelnen Beiträge nun systematisch abgeschritten. Nach einer knappen inhaltlichen Konturierung steht konstruktive Kritik im Zentrum. Wenn kritische Rückfragen überwiegen, dann ist das nicht einem hermeneutischen Generalverdacht geschuldet, der Band hat seine Stärken, die ihm unbenommen seien. Nicht zuletzt durften die Rezensenten dies in der anregenden Wirkung erfahren, die das Buch hat, aber auch in seiner Vielgestaltigkeit. Thoralf Klein geht dem ausgeprägten Religionspluralismus in Ostasien nach, einer Region, in der auch Mehrfachzugehörigkeiten in Religionserhebungen gang und gäbe sind und als unproblematisch erachtet werden. Nebst den interessanten und aufschlussreichen Ausführungen hinsichtlich ostasiatischer Religionsmentalitäten, bietet Klein eine Analyse in Bezug auf die Missionstätigkeit der Jesuiten in China, welche, so scheint uns, von manchen Stereotypen begleitet ist.

Christopf Mandry steuert einen systematischen und sozialethischen Artikel bei, der auch auf das jetzige Europa in Gestalt der EU abzielt – auffallend ist der für die katholische Sozialethik bezeichnende Bezug auf die eigene konfessionelle Tradition mit ihren Brüchen und Kontinuitäten (38, 39).

Jörg Rüpke will die Anfänge europäischer Religionsgeschichte im alten Rom freilegen. Manche Passagen nehmen sich sperrig aus und sind schwer zu verstehen. Vielleicht will der Beitrag zu viel oder positiver formuliert: Es hätte u.U. mehr Platz gebraucht, um die verschiedenen Aspekte für den Nicht-Experten nachvollziehbar auszuführen.

Sabine Schmolinsky zeigt, von Textgrundlagen ausgehend, die bis zum biblischen Befund zurückreichen, wie im Mittelalter eschatologische Szenarien im Raum der Christenheit sich auszuprägen vermochten, die sich dann in verhängnisvoller Weise auf konkrete Situationen auswirkten, nämlich die Marginalisierung und Verfolgung der jüdischen Gemeinschaft wie auch von Heiden und Häretikern – der Antichrist-Band von M. Delgado und V. Leppin von 2011 wurde dabei nicht herangezogen.

Stephanie Haarländer befasst sich mit Petrus Venerabilis, dem interessanten und reiselustigen Abt von Cluny und seiner Beschäftigung mit dem Islam. Es stimmt nachdenklich, dass die Autorin mit einem abqualifizierenden und eher negativen Unterton diese Bemühungen nachzeichnet. Für eine historische Situierung ist der vorgenommene Vergleich mit dem Heute zwar nicht illegitim, aber trotzdem womöglich zu stark ausgeführt (81).

Rotraud Ries’ interessanter Beitrag nimmt sich Konvertiten der Frühen Neuzeit an, die sich vom Judentum zum Christentum wandten. Mit ihrem «Raumkonzept » im Kontext des «spatial turn» tritt sie scharf gezogenen Linien im Konversionsgeschehen entgegen, die kurz gesagt das punktuelle Ereignis der Taufe überbewerteten. Die Kritik ist bestimmt berechtigt, aber auch tendentiell zu grob. (89, auch im Unterschied zu 100, wo klar wird, dass eine glatte Linie auch früher nicht gezogen wurde). Religion wird zudem als Verbrämung gedeutet. (105).

Martin Muslow forscht nach den Grundlagen der Religionsgeschichte in der Frühen Neuzeit, was er mit einem sehr interessanten Ansatz tut. Die Bedeutung der Religionskomparatistik ist dabei hoch einzuschätzen. Der Beitrag wurde von den Rezensenten als sehr gelungen und bereichernd betrachtet.

Christoph Bultmann bezieht sich auf Hugo Grotius und die Frage des Pluralismus in dessen Schriften. In erfreulich offener Weise gibt er eine «pragmatische Antwort» auf die Frage, warum er sich mit der Thematik beschäftige (S. 127). Insgesamt zeigt Bultmann die zunehmende Stärkung des Staatskonzepts in der frühen Neuzeit auf – freilich noch unter Bezugnahme auf christliche Grundlagen – zu Lasten christlich dogmatischer Spitzfindigkeiten, die Grotius, ebenso ablehnt wie den Atheismus. Der Mitherausgeber lehnt interessanter Weise die Bezeichnung des Pluralismus als Markenzeichen europäischer Religionsgeschichte ab (S. 141/142). Hätte nicht insofern der Untertitel des Sammelbandes vielleicht ein, wenn auch ungewöhnliches, Fragezeichen verdient?

Richard Hölzl zeichnet katholische Missionsdynamik in der Moderne nach und stellt grundlegende Überlegungen an. Er schildert einleitend, aber auch am Schluss, dass religiöse Motive in der Wahrnehmung in Fragen der Mission hinter humanitäre Erklärungsmuster zurückgetreten seien. Er spricht hier von Missverständnissen, von einer Unfähigkeit, Frömmigkeitsaspekte im Hintergrund, z.B. bei Mutter Teresa, zu dechiffrieren. Hier stellte sich uns die Frage, ob Mission nicht im Gegenteil vordergründig eher unter religiösen Gesichtspunkten verstanden und gerade deshalb abgelehnt wird?

Heidemarie Winkel befragt Geschlechterungleichheit in theologischen Wissenssystemen. Es zeigt sich, dass grosse Teile des Protestantismus in Deutschland in Sachen Pastorinnen erst in jüngster Zeit Trendwenden vollzogen (166), was Struktur, aber auch die Theologie dahinter betrifft. Winkel operiert stark auf diesen zwei Ebenen, von Wissen und Institution, um die «Reformulierung» und «Reform» darzustellen. Am Ende ihres Beitrags spricht sie dann in Sachen Reformulierung auch noch von Pluralisierung, um Anschluss an die thematische Hauptlinie des Bandes zu kreieren.

Benedikt Kranemann bringt sodann eine liturgiegeschichtliche Perspektive ein. «Pluralität und Liturgie widersprechen sich zunächst einmal» (189), wie Kranemann lapidar festhält. Er zeigt dann in katholischer Tradition auf, dass es diachron liturgische Vielfalt in der lateinischen Kirche gab, die erst im 19. Jahrhundert ein Ende fand (S. 199). Liturgie wird allgemein als Lackmus-Test in Fragen des kirchlichen Pluralismus gesehen. In diesem Kontext bekommt dann auch die liturgiegeschichtliche Betrachtung einen zentralen Stellenwert, der das Fach nicht gerade unterbewertet.

Josef Pilvousek beschliesst das Buch, indem er sich auf die Katholische Kirche in der DDR beschränkt. Pluralisierungstendenzen in der Kirche nach dem II. Vatikanum waren im SED-Staat kirchlicherseits eher verpönt, Geschlossenheit war gefragt – hier hätte, zumindest LeserInnen in einem Schweizer Kontext auch ein kurzer Seitenblick auf die lutheranische Kirche interessiert.

Global betrachtet kann der Band als sehr anregend betrachtet werden. Hier wurden viele Perspektiven zusammengetragen, welche in stärkerem Masse zu vernetzen interessant sein könnte. Das ist aber in einer Ringvorlesung kaum möglich. Vielleicht wäre die Dokumentation etwaiger Diskussionen im Anschluss an die Beiträge interessant gewesen.

Zitierweise:
Séverine Décaillet/Joel Gerber/Matthias Jordi/David Neuhold: Rezension zu: Christoph Bultmann/Jörg Rüpke/Sabine Schmolinsky (Hg.), Religionen in Nachbarschaft. Pluralismus als Markenzeichen der europäischen Religionsgeschichte (Vorlesungen des interdisziplinären Forums Religion der Universität Erfurt 8), Münster/ Aschendorff 2012. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 107, 2013, S. 489-491.

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